Empathie – die Kunst präsent zu sein

von Viktoria Spätauf

Im Duden wird Empathie als Einfühlungsvermögen oder Fingerspitzengefühl bezeichnet, also die „Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“. Der Psychologe Carl Rogers beschrieb Empathie als „Wenn… dir jemand wirklich zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne dass er den Versuch macht, die Verantwortung für dich zu übernehmen oder dich nach seinem Muster zu formen …“. Nach Marshall Rosenberg und seinem Lebenswerk der Gewaltfreien Kommunikation bedeutet Empathie volle Präsenz – jemandem mit seinem ganzen Wesen zuzuhören ohne zu bewerten. Dabei geht das Konzept der Empathie weit über den Verstand hinaus: Zusätzlich zu der Perspektivenübernahme im Sinne von „Ich kann nachvollziehen, was du mir sagst, wenn ich mich in deine Lage versetze“, heißt empathisch aufnehmen: Hinter dem Gesagten die Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche des anderen zu hören bzw. mit allen Sinnen zu erfassen. Es ist ein respektvolles Verstehen des Gegenübers, das unglaublich heilsame Wirkung haben kann.

Wenn wir denken, dass wir empathisch reagieren, aber…

Jemandem seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, ist äußerst schwierig. Oftmals versetzen uns alltägliche Situationen, in denen uns jemand etwas anvertraut in den Glauben, wir müssten ihn „retten“ bzw. irgendetwas tun, um die Sache „in Ordnung zu bringen“. Doch genau diese Glaubenssätze und unser Verstand blockieren uns, tatsächlich präsent zu sein. Stattdessen neigen wir zu folgenden Verhaltensweisen:

  • Wir erteilen Ratschläge: „Vielleicht wäre es besser, du …“, „Warum hast du nicht schon…?“
  • Wir belehren, weil wir meinen, es besser zu wissen: „Wenn du dies und das … kann sich daraus noch etwas Positives entwickeln…“
  • Wir trösten: „Macht ja nichts. Beim nächsten Mal…“
  • Wir bemitleiden: „Oh je, du Arme…“
  • Wir verhören: „Und seit wann ist das so?“
  • Wir rechtfertigen uns durch Erklärungen „Ich hätte ja, aber…“ und Verbesserungen „Ganz so stimmt das nicht…“

Die 4 Säulen der Empathie

Im Einklang mit dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation und dem humanistisch-psychologischen Ansatz von Carl Rogers, hat Theresa Wiseman vier Säulen der Empathie definiert:

  • Perspektivenübernahme: Ich sehe die Situation aus dem Blickwinkel meines Gegenübers mit all meinen Sinnen.
  • Unvoreingenommenheit: Ich lege meine Urteile, Erfahrungen und vorgefertigten Meinungen ab und nehme die Sicht meines Gegenübers respektvoll und so, wie es für ihn im Hier und Jetzt ist, an (= ohne Bewertung).
  • Emotionen verstehen: Ich höre die Gefühle und Bedürfnisse meines Gegenübers und verstehe, was sie bedeuten.
  • Verständnis kommunizieren: Ich melde meinem Gegenüber zurück, dass ich seine Gefühle und Bedürfnisse höre und verstehe.

In dem nachstehenden Cartoon, fasst Dr. Brené Brown auf witzige Art und Weise zusammen, was Empathie bedeutet und wie Sie vielleicht auch zukünftig im Alltag empathisches Verhalten erkennen können.

Kleine Empathie-Übung zum Schluss

Entscheiden Sie für sich selbst: Sind folgende Reaktionen aus Ihrer Sicht empathisch oder eher nicht? Wenn Sie die Position von Person 1 einnehmen, fühlen Sie sich von Person 2 in den jeweiligen Situationen verstanden?

Person 1: Ich bin einfach zu dumm für diese Arbeit.
Person 2: Wie kommst du darauf? Fehler passieren doch jedem von uns. Kopf hoch!

Person 1: Du bist nie zu Hause!
Person 2: Meinst du, ich sollte öfters da sein, als ich es bin?

Person 1: Ich bin so fett geworden
Person 2: Ich finde du siehst toll aus. Ich kann verstehen, dass es dir so geht. Ich mache mir auch öfters Gedanken um meine Figur.

Person 1: In der Arbeit ist so viel zu tun. Während ich mich abstrample, tun die anderen gar nichts.
Person 2: Bist du verärgert, weil du Unterstützung benötigst?

Person 1: Ich bin enttäuscht von dir und habe mir mehr eine bessere Leistung erwartet. So viele Fehler dürfen vor dem Kunden nicht passieren.
Person 2: ich verstehe Ihre Enttäuschung, weil Ihnen ein professionelles Auftreten vor dem Kunden wichtig ist.

Quellen:

Brown, B. (2008) I thought it was just me (But it isn’t). Penguin Publishing Group: New York.

Rosenberg, M. (2013) Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens. Junfermann Verlag: Paderborn.

Wiseman, T. (1996) A concept analysis of empathy. Journal of advanced nursing 23, 1162-1167

https://www.duden.de/rechtschreibung/Empathie

https://www.psychologytoday.com/us/blog/partnering-in-mental-health/201408/bren-brown-empathy-vs-sympathy-0